Generative KI hält Einzug in die Steuerberatung
Die Kritik kommt von höchster Stelle: Die Produktivität im Dienstleistungssektor wächst in Deutschland viel zu langsam und schwächt die gesamte Volkswirtschaft, moniert die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer. KI soll nun die Wende bringen.

Technischer Fortschritt war in Dienstleistungsberufen wie der Steuerberatung in den vergangenen 20 Jahren kaum vorhanden. Dank generativer KI kommt aber nun Schwung in die angestaubten Stuben: Private-Equity-Investoren und Start-ups drängen in den digital zurückgebliebenen Markt, um Routinetätigkeiten wie die Buchhaltung zu automatisieren und neue Geschäftsmodelle einzuführen.
Die schlaffe Digitalisierung im Dienstleistungssektor ist sogar dem Sachverständigenrat ein Dorn im Auge. „Der Strukturwandel geht mit einer grundlegenden Verschiebung vom Verarbeitenden Gewerbe mit traditionell hohem Produktivitätswachstum zum Dienstleistungssektor einher, in denen die Produktivität bisher deutlich langsamer wächst. Dies dämpft das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum und schwächt damit die Wachstumsdynamik der Volkswirtschaft insgesamt“, sagt die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer.
Wie sich das Produktivitätswachstum im Strukturwandel verändert, hänge wesentlich davon ab, ob neue Technologien – insbesondere KI – im Dienstleistungssektor produktivitätssteigernd eingesetzt werden. „Gerade bei Unternehmensdienstleistungen hat sich die Produktivität bisher sehr schlecht entwickelt. Insgesamt ist das Produktivitätswachstum von Unternehmen der Dienstleistungsbereiche in Deutschland wesentlich geringer als in den USA. Hier liegt noch ungenutztes Potenzial“, urteilt Schnitzer.
Investoren greifen nach den Kanzleien
Das denken sich auch internationale Investoren. Seit einiger Zeit erlebt die traditionell mittelständisch geprägte Steuerberatungsbranche in Deutschland eine beispiellose Welle an Investitionen, die wegen des Fremdbesitzverbots zwar komplexe Transaktionen erfordert, aber nicht aufzuhalten ist. So hat sich der US-Investor KKR im Frühjahr 2025 an der Finanzierung der ETL-Gruppe beteiligt. ETL ist Deutschlands größter Steuerberater-Verbund mit mehr als 1.000 Kanzleien. Kurz zuvor ist der schwedische Investor EQT als Ankerinvestor bei der Münchener Steuerberatung WTS eingestiegen – mit dem klaren Ziel, gemeinsam einen europäischen „Steuerberatungs-Champion“ aufzubauen. WTS versteht sich als Nummer fünf in Deutschland und will die „Big 4“, also Deloitte, EY, KPMG und PwC, angreifen. Auch die Partners Group aus der Schweiz tritt als Konsolidator auf und hat rund 20 Steuer- und Wirtschaftsprüfungskanzleien in Deutschland unter dem Namen Afileon zusammengeführt. „Das Geschäftsmodell der Big 4 erodiert gerade. Die haben jahrelang davon gelebt, dass ihre Associates Gutachten geschrieben haben. Das kann Deep Research mittlerweile innerhalb von Minuten machen“, erwartet Gothmann.
Parallel dazu fließt Risikokapital in TaxTech-Startups. Zuletzt hat der Hamburger Steuersoftware-Anbieter Taxdoo mit dem prominenten US-Wagniskapitalgeber Accel im Rücken das Unternehmen Account Digital übernommen, das auf eine automatisierte Buchhaltung mithilfe Künstlicher Intelligenz spezialisiert ist. Zuvor hat Accountable, ein Anbieter einer Steuer-App für Freiberufler, den norwegischen Softwarekonzern Visma als Geldgeber gewonnen. Das Münchener Start-up Integral sicherte sich 6,3 Millionen Euro von Cherry Ventures und General Catalyst, um mit KI-gestützter Buchhaltung und Steuerberatung den Backend-Dominator DATEV anzugreifen. Konkurrent Filed erhielt sogar 17,2 Millionen Dollar für die Vollautomatisierung von Steuererklärungen mithilfe von KI-Agenten.
Internationale Investoren sehen in Deutschland großes Potenzial, da viele Selbstständige und kleine Unternehmen in ihrer Buchhaltung noch weitgehend analog arbeiten. „Meines Erachtens findet gerade der Einzug der Plattformökonomie in der Steuerberaterwelt statt, was aufgrund der strikten Regulierung in den letzten Jahrzehnten nicht stattgefunden hat“, meint Roger Gothmann, der CEO von Taxdoo. Mit der E-Rechnungspflicht und den Fortschritten in der KI bringen Deregulierung und technischer Fortschritt parallel Schwung in den Markt.
KI als Treiber der neuen Geschäftsmodelle
Mit dem Aufkommen der Sprachmodelle à la ChatGPT hat die Automatisierung in der Steuerberatung neuen Schub erhalten. Lange bevor dieser Hype die breite Öffentlichkeit erreichte, setzten Steuerkanzleien bereits auf KI, zum Beispiel für Routinetätigkeiten wie die automatisierte Belegerfassung und Buchhaltung. „Möglichkeiten, 95 Prozent der Buchhaltung zu automatisieren, gibt es schon lange. Aber für die restlichen 5 Prozent Sonderfälle, zum Beispiel eine handschriftliche Notiz auf einer Rechnung zu erkennen, wurde bisher der Mensch gebraucht. Aber genau darauf lässt sich die KI trainieren. Ich denke, in fünf Jahren haben wir dann wirklich eine vollautomatisierte Buchhaltung“, erwartet Gothmann. Darüber hinaus kann generative KI auch komplexere Tätigkeiten unterstützen, beginnend bei der Recherche in Gesetzeskommentaren, dem Bescheid-Check in Echtzeit, der Mandantenkommunikation und dem Wissensmanagement.
Allerdings seien 98 Prozent der Steuerberater in Deutschland auf diesen Wandel nicht vorbereitet, da sie dann ihre Gehilfen für die Buchhaltung eigentlich nicht mehr brauchen. „Die repetitiven Aufgaben werden definitiv wegbrechen. Das bedeutet, dass ein Steuerberater dann nicht mehr 20, sondern vielleicht 60 Mandanten betreuen kann. Die Wertschöpfung wird dann in der Beratung stattfinden“, erwartet Gothmann.
Investoren sehen darin enormes Skalierungspotenzial: Beratungsfirmen könnten durch KI effizienter mehr Mandanten bedienen – ein wichtiger Faktor angesichts des Fachkräftemangels im Beruf. So betont etwa WTS, man werde mithilfe von EQT verstärkt in digitale Services und künstliche Intelligenz investieren, um das ohnehin schon stark technikorientierte Geschäftsmodell weiter auszubauen. Auch ETL und Afileon haben den Technologie-Turbo im Blick: Einheitliche Software, digitale Mandantenportale und KI-gestützte Workflows sollen die zersplitterten Einheiten in straff geführte Plattform-Unternehmen verwandeln.
Je näher sich das Leistungsspektrum standardisieren lässt, desto weniger überzeugt die bisherige Abrechnung nach Arbeitsstunden. Immer mehr Kanzleien wechseln bereits auf Flatrate-Pakete: KI-gestützte Buchhaltung zum Fixpreis, individuelle Gestaltungs- und Rechtsbehelfsberatung zum Premium-Stundensatz. Kanzleien, die ihre Automatisierung transparent weitergeben, berichten von Margenzuwächsen, obwohl Softwarekosten steigen.
Konsolidierung, Plattformen und Automatisierung
Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die deutsche Steuerberater-Branche vor einer grundlegenden Umwälzung steht. Zum einen führt der Konsolidierungsdruck dazu, dass viele kleinere Kanzleien entweder Käufer suchen oder mangels Nachfolge ganz vom Markt verschwinden. Gerade ältere Inhaber lösen ihre Kanzleien zunehmend auf, wenn ihnen die Digitalisierung und der Wettbewerb über den Kopf wachsen.
Gleichzeitig entstehen neue Großakteure: Neben den Big 4 etablieren sich finanzstarke „Steuerkonzerne“ auf Investorenbasis wie ETL, WTS oder Afileon. Sie alle setzen auf Plattform-Modelle, bei denen zentrale Einheiten den angeschlossenen Kanzleien moderne Infrastruktur, gemeinsame Markenauftritte und geteiltes Fachwissen bieten. Dadurch sollen Skaleneffekte erzielt und überregionale Mandate gewonnen werden, die früher an die Big 4 gingen. Die Fragmentierung des Marktes – bislang mehr als 40.000 meist kleine Steuerkanzleien in Deutschland – dürfte abnehmen, da Aufkäufe und Fusionen zunehmen.




