Wie KI-Browser die neuen Gatekeeper im Internet werden
Im Internet tobt wieder ein Browser-Krieg. Den ersten Krieg hat Microsoft gewonnen, den zweiten Google. Doch die dritte Schlacht wird die wichtigste. Denn Künstliche Intelligenz macht aus dem guten alten Browser das Schweizer Messer des Internets.

Begonnen hat die Geschichte am 15. Dezember 1994. Damals hatten Marc Andreessen und Jim Clark den Netscape Navigator auf den Markt gebracht und damit für viele Nicht-Nerds den Zugriff auf Websites erstmals möglich gemacht. Microsoft, vor allem Gründer Bill Gates, hatte das Internet kolossal unterschätzt und einen Browser nicht als nötig erachtet. Erst als der Netscape Navigator dem World Wide Web zum Durchbruch verholfen hatte, erkannte auch Microsoft die Bedeutung dieses Fensters zum Web und zog mit dem Internet Explorer nach. Aufgrund der Kopplung mit seinem dominanten Betriebssystem Windows hatte der Internet Explorer den Navigator schon kurze Zeit später verdrängt und schwang sich zum Marktführer auf, was Microsoft prompt in die Monopolisten-Falle tappen ließ, träge zu werden und Innovationen zu vernachlässigen. Damit öffnete Microsoft der Konkurrenz ein zweites Mal die Tür, die zuerst von der Mozilla-Foundation mit dem Firefox-Browser und wenig später von Google mit dem Chrome-Browser genutzt wurde. Heute verfügt der Chrome-Browser über rund 60 Prozent Marktanteil und füttert Googles Werbemaschine perfekt mit Daten zum Nutzerverhalten. Microsofts hat seitdem zwar viele Versuche unternommen, seinen Browser zu reaktivieren, aber weder eine Umbenennung noch die Kopplung mit ChatGPT brachten den gewünschten Umschwung. Der Markt schien zementiert, aber die Künstliche Intelligenz schickt sich an, nach der Suche auch den Browsing-Markt neu zu definieren – und damit Google schon zum zweiten Mal in die Defensive zu bringen.
Denn die neuen KI-Browser Dia und Comet, die vom Start-up The Browsing Company und seit vergangener Woche vom KI-Unternehmen Perplexity auf den Markt gebracht wurden, integrieren Künstliche Intelligenz direkt ins tägliche Leben der Internetnutzer und können die Nutzung von Websites fundamental ändern. Denn sie agieren im Auftrag des Nutzers direkt mit den Websites, können dort auf Wunsch zum Beispiel Nachrichten zusammenfassen, Produkte einkaufen, E-Mails beantworten, freie Termine finden oder mehrstufige Recherchen übernehmen. Richtig spannend wird es aber erst, wenn auch KI-Marktführer OpenAI seinen Browser auf den Markt bringt.
Wenn die KI-Agenten die Arbeit erledigen
Möglich machen diese sogenannten KI-Agenten, die komplexe Aufgaben abarbeiten können und damit erhebliche Komfortgewinne bringen können. Hier einige Anwendungsfälle:
- KI-Suche und Inhaltszusammenfassung: Comet setzt Perplexitys KI-Suchmaschine als Standard ein. Suchanfragen werden direkt in knappe Antworten und Zusammenfassungen umgewandelt, ohne dass die Nutzer die Resultate durchklicken muss. Ähnlich dazu bietet Dia ein Chat-Eingabefeld in der Adressleiste, über das der Browser Webseiten für den Nutzer durchsuchen und Inhalte zusammenfassen Dias zentraler Chatbot kann sehen, welche Websites offen sind und wo die Nutzer eingeloggt sind, um Fragen kontextbezogen zu beantworten und Informationen aus verschiedenen Tabs zu einem Ergebnis zu bündeln. Möglich ist zum Beispiel die nahtlose Recherche in einem Zeitungsarchiv, um dort alle gewünschten Informationen zu einem Thema zu finden. So wird der gesamte Browsing-Vorgang zu einem einzigen, nahtlosen Dialog mit der KI. Der Nutzer überspringt damit die User-Interfaces vieler Websites – was vor allem der Bequemlichkeit der Nutzer entgegenkommt.
- Automatisierte Routineaufgaben: Die KI-Agenten übernehmen auf Wunsch auch interaktive Aufgaben auf Websites. Comets „Assistant“ kann etwa E-Mails oder Kalendereinträge für den Nutzer zusammenfassen, Tabs verwalten oder eigenständig auf Webseiten navigieren. Laut Perplexity kann der Assistent sogar Produkte vergleichen, Inhalte für Recherche zusammenstellen, Hotelbuchungen vornehmen und Meetings vereinbaren – direkt in einer einfachen Konversation. Dia bietet ähnliche Fähigkeiten: Der Chatbot kann – basierend auf mehreren geöffneten Tabs – einen Textentwurf erstellen oder Fragen zu allen gerade offenen Webseiten gleichzeitig beantworten. Selbst komplexe Workflows – wie das Planen einer Reise oder das Einkaufen – lassen sich auf diese Weise in Konversationsform erledigen, anstatt manuell durch Formulare und Seiten zu klicken.
- Personalisierung und Kontext: Beide Browser erlauben eine stärkere Personalisierung des Surferlebnisses durch KI. Bei Dia kann man den Chatbot etwa per Dialog an den eigenen Stil anpassen – beispielsweise Tonfall, Schreibstil oder Vorlieben für Programmierantworten einstellen. Eine opt-in History-Funktion erlaubt es Dia sogar, die letzten 7 Tage des Browserverlaufs als Kontext zu nutzen, um noch treffendere Antworten auf Nutzerfragen zu geben. Comet soll künftig Verhaltenssignale nutzen können, um die Erfahrungen und Empfehlungen stark zu personalisieren – in einem Maße, das über herkömmliches Cookie-Tracking hinausgeht.
Durch diese KI-Integration kann sich das Nutzerverhalten deutlich verändern. Viele Aktionen, die früher manuell erfolgten, erledigen nun KI-Agenten. Informationen werden nicht mehr mühsam zusammengesucht, sondern von der KI ausgewählt und präsentiert. Erste Dia-Tester berichten sogar, dass sie für Alltagsaufgaben – vom Essensplan über Lernhilfe bis zu Ratschlägen in persönlichen Fragen – inzwischen direkt den Browser-Chatbot konsultieren, noch bevor sie klassische Apps oder eine Google-Suche öffnen. Vor allem junge Nutzer gewöhnen sich schnell daran, „mit der KI zu sprechen“ wie mit einem Menschen.
Auswirkungen auf Online-Werbung und den Internet-Traffic
Wenn die Bequemlichkeit – wie eigentlich fast immer – mögliche Datenschutzbedenken überwiegt, besitzen die neuen KI-Browser das Potenzial, die Nutzerströme im Web und damit das Online-Werbegeschäft grundlegend zu verändern – und damit vor allem Google unter Zugzwang zu bringen. Denn dessen Chrome-Browser spielt eine Schlüsselrolle in Googles Werbe-Ökosystem: Als meistgenutzter Browser der Welt sammelt Chrome riesige Mengen Nutzerdaten und leitet Suchanfragen standardmäßig an Google weiter. Beides sind essentielle Quellen für Googles Werbeumsätze. Chrome ist dabei ein wichtiger Pfeiler, weil es Nutzerinformationen für präziseres Ad-Targeting liefert.
Diese Mechanismen geraten nun unter Druck: Sollte ein signifikanter Teil der Nutzer zu KI-Browsern wechseln, droht Google ein Verlust an Daten und Traffic. Ähnlich wie Google schon seine Suchmaschine in Richtung KI-generierter Antworten umgebaut hat, könnte das Unternehmen reagieren, indem es seinen Chrome-Browser in einen KI-Agenten umwandelt, der die Bedürfnisse der Nutzer direkt erfüllt statt sie zu den passenden Websites zu leiten.
Neben den Inhaltsanbietern werden dies vor allem die Online-Händler zu spüren bekommen, wenn deren Warenkörbe künftig von einem Agenten gefüllt werden. Anders als die Menschen tätigen die KI-Agenten keine unüberlegten Spontankäufe und lassen sich auch nicht von Online-Werbung beeinflussen. Wenn die KI-Browser die neuen Gatekeeper werden, werden darunter vor allem die alten Plattformen leiden, die ihre Nutzer bisher geschickt an sich gebunden haben.
KI-Unternehmen als neue Player im Werbegeschäft
Einen Schritt weitergedacht können die Anbieter der KI-Browser dann ebenfalls die wertvollen Nutzerinformationen sammeln, um selbst gezielte Werbung schalten zu können. Noch ist eine Werbestrategie der KI-Unternehmen aber erst in Ansätzen zu erkennen. OpenAI-Chef Sam Altman hat kürzlich angedeutet, dass Werbung zwar möglich sei, aber die KI-Aussagen nicht beeinflussen dürfe. Platz für Werbung dürfte um die KI-Antworten aber genügend vorhanden sein und den KI-Unternehmen helfen, neue Einnahmequellen zu erschließen, um die teure KI-Entwicklung zu finanzieren. Werbeeinnahmen dürften in diesem Fall ziemlich schnell von den Gatekeepern 1.0 (Google, Amazon…) zu den Gatekeepern 2.0 (OpenAI, Perplexity…) umgeleitet werden.
Wenn Nutzerströme sich in KI-gesteuerte Interfaces verlagern, ändert sich auch das Werbeformat grundlegend. In traditionellen Browsern kämpften Werbetreibende um Sichtbarkeit in Suchergebnissen (SEO/SEA) oder um Bannerplätze auf vielbesuchten Seiten. KI-Browser hingegen lassen diese Grenzen verschwimmen: Die KI liefert oft nur noch eine einzige konsolidierte Antwort oder führt direkt eine Aktion aus, statt dem Nutzer viele Wahlmöglichkeiten zu präsentieren. Werbung muss sich daher neue Wege suchen, um überhaupt noch stattzufinden. Branchenbeobachter erwarten, dass konversationelle Werbung an Bedeutung gewinnt: Unternehmen könnten dafür bezahlen, dass ihre Produkte oder Inhalte als Empfehlung innerhalb der KI-Antworten auftauchen – etwa in Form von „gesponserten Folgefragen“ oder prominenten Nennungen in der Chat-Antwort. Tatsächlich testet Perplexity bereits ein solches Format, bei dem die KI in ihren Antworten gesponserte Anschlussfragen einbettet, die Werbebotschaften subtil integrieren. Für Werbekunden verschiebt sich damit der Fokus vom Bieten auf Keywords hin zum Wettbewerb um KI-„Antwort-Platzierungen“ und Empfehlungen durch Agenten.
Wie KI-Anbieter die Paywalls der Verlage umgehen
Sollten die KI-Browser zum Beispiel den Inhalt von Verlagswebsites oder Artikeln per KI bequem zusammenfassen, besteht für die Nutzer immer weniger Anlass, diese Websites aufzusuchen. Der Druck für die Verlage, direkte bezahlte Kundenbeziehungen in Form von Abos aufzubauen, würde also nochmals wachsen. Kritisch ist in diesem Zusammenhang, ob es den KI-Anbietern gelingt, die Artikel hinter den Paywalls der Verlage zu rekonstruieren. Das gelingt ziemlich gut, wie eine aktuelle Untersuchung des Datenjournalisten Henk van Ess aufdeckt. Er hat analysiert, wie die KI an die Inhalte hinter der Paywall kommt: Sie rekonstruieren die Inhalte aus verschiedenen Fragmenten, die sie in verschiedenen Quellen wie sozialen Medien und Internet-Archiven finden.
Die Studie aus dem Juni 2025 testete führende KI-Systeme an Publikationen aus der Press Gazette 100k Club-Datenbank mit ernüchternden Ergebnissen: ChatGPT, Perplexity und Grok umgingen auf diese Weise Paywalls in etwa 50 Prozent der Fälle, Anthropics Claude erreichte 35 Prozent, während Googles Gemini mit 25 Prozent am wenigsten aggressiv vorging. Besonders raffiniert agiert Elon Musks Grok, das über die X-Integration systematisch soziale Medien nach Zitaten und Screenshots durchforstet.
Van Ess identifizierte sechs Umgehungsmethoden: von der „verteilten Archivierung“, bei der Artikelfragmente aus verschiedenen Quellen zusammengesetzt werden, über die Nutzung von Archive-Diensten wie Archive.org bis hin zur gezielten Auswertung sozialer Medien. Besonders verwundbar seien große US-Zeitungen mit starker Social-Media-Präsenz und umfangreicher Sekundärberichterstattung. Hier erreichen führende KI-Systeme Erfolgsraten von mehr als 70 Prozent. Meist reichen zwei bis drei gezielte Nachfragen, um vollständige Inhalte von Wall Street Journal, New York Times oder Economist zu extrahieren.
Für Verlage entsteht ein Dilemma: Die KI-Systeme „hacken“ nicht direkt, sondern nutzen die natürliche Informationsverbreitung im Netz. Jeder Bezahlartikel hinterlässt digitale Spuren wie Zitate in anderen Publikationen, Social-Media-Diskussionen, archivierte Snapshots, die sinnvoll sind, um die Verteilung der Artikel zu steigern und neue Abonnenten zu gewinnen. KI-Systeme werden aber immer effizienter darin, diese Fragmente zu sammeln und zu Inhalten zusammenzusetzen, die sogar oft noch übersichtlicher organisiert sind als die Originale.
Ein neues Paradigma
Noch funktioniert in den neuen KI-Browsern nicht alles. Aber wer die bisherige steile „Lernkurve“ der generativen KI in den vergangenen zweieinhalb Jahren mitgegangen ist, kann sich vorstellen, was passieren kann, wenn die bisweilen hohen Anforderungen an die Nutzer, um die KI richtig zu bedienen, nun von den neuen Browsern erheblich gesenkt werden – und damit die Verbreitung der KI in den Massenmarkt erheblich beschleunigen können. Vielleicht sogar noch schneller, als es damals der Netscape Navigator geschafft hat, das Internet als Tummelplatz für einige Nerds für beinahe alle Menschen zugänglich zu machen.



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