Gabriel über Industrie 4.0: „Es ist nicht ausgemacht, dass Deutschland Innovationsführer bleibt“
Die Digitalisierung wird die Spielregeln in der Industrie neu schreiben. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist nicht sicher, dass Deutschland seine führende Rolle in der Industrie 4.0 halten kann.
Die deutsche Industrie steht vor dem nächsten großen Entwicklungsschritt, der Digitalisierung. Maschinen werden zu „cyber-physischen Systemen“, die untereinander und mit den produzierten Produkten kommunizieren. Dieser Schritt, der in Deutschland unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ diskutiert wird, könnte Gewinner und Verlierer in der Industrie genauso neu sortieren wie die Digitalisierung in den vergangenen zehn Jahren schon die Medien, die Musik oder die Kommunikation umgekrempelt hat. Mit einem wichtigen Unterschied: Während Deutschland in den Medienmärkten nie eine zentrale Rolle auf dem Weltmarkt spielte und das, was es zu verlieren gab und schließlich auch verloren hat, für die Wertschöpfung hierzulande nicht besonders bedeutsam war, stehen nun wesentliche Assets unseres Wohlstands auf dem Spiel.
„Nicht ausgemacht, dass Deutschland Innovationsführer bleibt“
Branchen wie Automobil, Maschinenbau oder Elektrotechnik bilden das Zentrum dieser vierten industriellen Revolution. Die großen Player wie SAP, Siemens, Telekom, Bosch oder Maschinenbauer wie Trumpf sind längst aktiv, aber die Mehrheit des deutschen Mittelstands wartet noch ab, ob und – wenn ja – welche konkreten Vorteile die Digitalisierung bringt. Ob Deutschland seine führende Rolle als „Ausrüster der Industrialisierung“ behalten wird, ist also keineswegs sicher. „Es ist nicht ausgemacht, dass Deutschland Innovationstreiber der Industrialisierung bleibt. Wir haben aber eine Riesenchance, diesen Innovationswettbewerb in vielen Branchen weiter anzuführen. Allerdings nicht in allen Branchen“, mahnte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel auf dem „Industrie 4.0 Forum“ des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam. (Auf dem Foto mit HPI-Gründer Hasso Plattner (r.) und HPI-CEO Christoph Meinel)
Welche Vorteile die Digitalisierung bringen kann, zeigte SAP-Vorstand Bernd Leukert am Beispiel Hamburger Hafen: „Dort wurde der Umschlag durch den Einsatz von Industrie-4.0-Technik um 14 Prozent erhöht.“ Wenn sich zum Beispiel Schiffe verspäten, erhalten die LKW-Fahrer, die neue Fracht bringen, das Signal, langsamer zu fahren, um nicht zu früh im Hafen anzukommen. Damit konnten unnötige Wartezeiten vermieden werden.
Als weiterer, relativ einfach zu erzielender Fortschritt gilt „Predictive Maintenance“, also die vorausschauende Wartung. Leukert nutzt dafür die Wasserversorgung in Los Angeles als Beispiel. Dabei werden Pumpen mit Sensoren ausgestattet, die frühzeitig Alarm schlagen, wenn der Druck fällt. In Echtzeit wird dann die Laufleistung der Pumpe ermittelt und der Techniker losgeschickt, damit der Austausch einer schon altersschwachen Pumpe rechtzeitig vor dem Kollaps erfolgen kann. „Predictive Maintenance“ gebe es zwar auch heute schon für teure Maschinen, doch der Preisverfall der Sensoren werde diese vorausschauende Wartung künftig auch für viele einfache Teile ermöglichen, sagte Norbert Gronau, Wirtschaftsinformatiker an der Uni Potsdam. Noch sei die intelligente Nutzung vieler Daten in der Industrie aber weit weniger verbreitet als zum Beispiel in der Finanzbranche oder im Handel, hat Gronau mit einer Befragung herausgefunden. In der Industrie werden noch sehr häufig auf Basis der Erfahrungswerte entschieden, während woanders die Datenanalyse wichtiger wäre.
„Service wichtiger als das Produkt“
Für Leukert führt die Vernetzung zu einem Paradigmenwechsel: „Der Service wird zu einem wesentlichen Differenzierungsmerkmal und Ansatz für die Monetarisierung. Das Produkt rückt in den Hintergrund.“ Viele Unternehmen müssen sich dafür umstellen: Wer bisher nur auf Forschung und Produktion ausgerichtet war, muss nun Servicekapazitäten für den Einsatz rund um die Uhr aufbauen. Nicht alle können das. Zum Beispiel musste der Energieversorger RWE Kritik einstecken, als sich sein Serviceteam für sein Smart-Home-Produkt am Freitagabend ins Wochenende verabschiedete und nicht mehr auf die Anfrage eines prominenten Kunden reagierte, dessen Haus abkühlte.
Produkt und Service gehören also künftig zusammen, was nach Ansicht von Leukert zu einem massiven Verdrängungswettbewerb über die Grenzen von Industrien hinweg führen wird. „Autohersteller werden künftig Garantien für den Nicht-Ausfall ihrer Fahrzeuge bieten. Damit wird die Versicherung Bestandteil ihres Geschäftsmodells“, sagte Leukert. Wer Erfolg haben will, müsse sich künftig breiter aufstellen: „SAP eignet sich Industriekompetenz an oder Industrie holt sich IT-Kompetenz ins Haus“, kündigte Leukert an. Sonst bleibe Industrie 4.0 ein Hype und werde keine Revolution mit sich bringen.
Roboter Farming
Das Bild der menschenleeren Fabrik, in der nur noch Roboter arbeiten, gilt als veraltet. In der modernen Fabrik arbeiten Menschen und Maschine direkt und ohne Schutzzäune nebeneinander. Der Roboter nehme dem Mensch viele unangenehme Tätigkeiten ab, sagte Michael Zürn vom Autohersteller Daimler. „Robot Farming“ wird diese enge Kooperation zwischen Mensch und Maschine bei Daimler genannt, die nur funktionieren kann, weil der Roboter den Menschen über seine vielfältigen Sensoren „spüren“ könne und ihm daher auch nicht gefährlich werde. “Die Feinfühligkeit des Menschen im Montageprozess wird mit der Wiederholgenauigkeit und Ausdauer der Roboter kombiniert”, erklärte Zürn, der das Konzept gemeinsam mit dem Roboterhersteller Kuka entwickelt hat. Die Idee funktioniere aber nur, wenn die Fabrik wandlungsfähig sei. Starre Produktionsstraßen seien dafür nicht zu gebrauchen. Am Ende des Prozesses werde diese „Smart Factory“ mehr Arbeitskräfte als zuvor beschäftigen, da mehr Aufgaben selbst erledigt werden könnten, was in letzter Konsequenz mehr Insourcing bedeutet.
Ganz so optimistisch für die Rolle des Menschen war der Dortmunder Arbeitswissenschaftler Jochen Deuse allerdings nicht. „In der Produktion verbleiben viele Aufgaben mit geringen Anforderungen; daneben entstehen aber auch zunehmenden Arbeitsausgaben mit hohen Anforderungen“, sagte Deuse. Im Klartext: Dazwischen werden viele Jobs vom Roboter übernommen. „Ich erwarte einen Rationalisierungsschub im Bereich der „White Colour Jobs“, also der indirekten Tätigkeiten“, sagte Deuse voraus. Irgendwo müssen die erhofften Produktivitätsfortschritte von bis zu 30 Prozent schließlich herkommen.
Die Bundeskanzlerin über Industrie 4.0:
Disclaimer: Ich war Moderator der Veranstaltung in Potsdam.
Fotos: Kay Herschelmann / HPI