Künstliche Intelligenz und Fintech treiben den digitalen Job-Markt

Rekord-Mangel an Datenspezialisten, Softwareentwicklern, Cloud-Experten und Fachleuten für das Internet der Dinge hemmt Wachstum der deutschen Digitalwirtschaft

Der Fachkräftemangel nimmt in der Digitalwirtschaft bedrohliche Ausmaße an. Die Zahl der ausgeschriebenen Stellen für Digital-Profis ist im dritten Quartal um 33 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf 24.700 gestiegen, zeigt der aktuelle digitale Jobmonitor des Handelsblatts. Dafür werden – basierend auf Daten der Berliner Index-Gruppe – alle ausgeschriebenen Stellen in Deutschland nach den Profilen für 16 Digital-Berufe gescannt, die für die Transformation der Wirtschaft besonders wichtig sind. Das größte Wachstum weist wieder die Nachfrage nach Spezialisten für Künstliche Intelligenz auf, die gegenüber dem Vorjahr 120 Prozent zugelegt hat. In der Rangliste danach folgen die Spezialisten für Finanz-Technologie (Fintechs) und Cloud-Computing. Die meisten Ausschreibungen stammen von Unternehmen aus Baden-Württemberg und Bayern.


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Der starke Anstieg der Fintech-Jobs spiegelt die zunehmende Reife der Branche. Die Unternehmen haben in den ersten neun Monaten des Jahres schon 778 Millionen Euro Risikokapital eingesammelt, so viel wie noch nie. Seit 2012 sind damit drei Milliarden Euro in die neuen Geschäftsmodelle der Finanzszene geflossen, zeigt die aktuelle Fintech-Studie der Comdirect. „Das konstant hohe Volumen an Risikokapital deutet darauf hin, dass sich die Fintech-Szene in Deutschland zunehmend professionalisiert. Aus den ,Jungen Wilden’ sind etablierte Unternehmen geworden“, sagt Arno Walter, Vorstandsvorsitzender der Comdirect.

Diese ‚Jungen Wilden’ benötigen für ihre Wachstum allerdings die richtigen Mitarbeiter. „In den vergangenen 12 Monaten haben wir fast 400 neue Mitarbeiter eingestellt. Das ist beachtlich, weil wir 2017 mit knapp 150 Mitarbeitern gestartet sind“, sagt Noor van Boven, Chief People Officer der mobilen Bank N26. Das Unternehmen könnte sicher noch schneller expandieren. „Doch dafür benötigen wir nicht nur Fachkräfte, sondern vor allem auch Bewerber, die unsere Denkweise teilen und bereit sind, mit uns zu wachsen. Daher nimmt die Besetzung von offenen Vakanzen auch mehr Zeit in Anspruch“, sagt van Boven. Einige Unternehmen in Branche bieten inzwischen sogar Unternehmensanteile für die Vermittlung passender Mitarbeiter.

Ein ähnlich rasantes Wachstum weist Ratepay auf, ein Spezialist für Online-Zahlungssysteme, der vom Zuwachs im Online-Handel profitiert. Gründerin Mariam Wohlfahrt: „Wir haben unsere Belegschaft in diesem Jahr auf 200 verdoppelt und wollen im kommenden Jahr weitere 100 Mitarbeiter einstellen.“

„Ein guter Entwickler ersetzt 5 bis 10 mittelmäßige“

Da aber nicht nur die Startups, sondern auch etablierte Banken und Sparkassen nach den Spezialisten fahnden, heizt sich der Wettbewerb um die Talente auf. „Erfahrene Softwareentwickler sind in Deutschland unfassbar schwer zu finden. Sie können sich ihre Jobs aussuchen“, beobachtet André Bajorat, Gründer des Hamburger Fintechs Figo, das die Schnittstellen zwischen Banken und ihren Kunden programmiert. „Ein richtig guter Entwickler ersetzt fünf bis zehn mittelmäßige, lautet ein Spruch in der Szene. Und da ist etwas Wahres dran. Gute Entwickler sind die Künstler unserer Zeit“, sagt Bajorat. Hat man diese Spezialisten einmal an Bord, unternehme man alles, um ihnen ein möglichst gutes Arbeitsumfeld zu verschaffen, damit sie die ständigen Anrufe der Headhunter möglichst gar nicht erst annehmen.

Noch sind die Gehälter nicht auf Silicon-Valley-Niveau gestiegen, aber die Richtung geht klar nach oben. „Die Digital-Spezialisten kennen ihren Wert. Entsprechend steigen die Gehälter im Moment. Vor allem bei einem Firmenwechsel sind hohe Sprünge drin“, sagt Sven Deglow, Co-Chef der Consorsbank und DAB BNP Paribas. Er sucht vor allem Softwareentwickler, Data-Scientists und Projektmanager, die sich mit agilen Methoden auskennen. „Zudem benötigen wir Fachleute für datengetriebenes Marketing. Aber auch klassische Bankkaufleute sind wieder gefragt“, erklärt Deglow. Generell benötigen die Fintechs nicht nur Techies. Ratepay sucht viele Vertriebler und Buchhalter; N26 sucht Mitarbeiter für die Kundenbetreuung und Spezialisten für Geldwäsche. Obwohl die Universitäten immer mehr Lehrstühle für Digitales schaffen, nehmen die Unternehmen die Bildung selbst in die Hand: „Weiterbildung ist ein großes Thema. Wir haben gerade die Digital and Data Academy ins Leben gerufen, um unsere Mitarbeiter fit zu machen“, sagt Deglow.

82 Prozent der Unternehmen beklagen Fachkräftemangel

Die Hoffnung auf eine schnelle Besserung der Lage am Arbeitsmarkt schwindet. Gingen vor einem Jahr nur 67 Prozent der Unternehmen von einem Fachkräftemangel in der IT aus, sind es heute schon 82 Prozent, zeigt eine aktuelle Repräsentativumfrage des Branchenverbandes Bitkom. Sechs von zehn erwarten eine Verschärfung des Fachkräftemangel. „Jede offene Stelle bedeutet einen Verlust. Einen Verlust an Wertschöpfung, ein Weniger an Innovationen – und das gilt schon lange nicht mehr nur für die IT-Branche, sondern die gesamte Wirtschaft“, warnt Bitkom-Geschäftsführer Bernhard Rohleder.

Weil der Bedarf im Inland nicht zu decken ist, wird die Suche im Ausland intensiver. „In diesem Jahr haben wir neue Mitarbeiter aus 30 verschiedenen Ländern eingestellt“, sagt N26-Manager van Boven. Figo-Chef Bajorat sucht vor allem in Osteuropa und Nordafrika nach dem Spezialisten.

Der Ausweg: Flash-Teams

Denn an anderen Orten der Erde sind die Spezialisten durchaus vorhanden und verfügbar, sagt Manuel Pistner, Geschäftsführer der Darmstädter Agentur BrightSolutions. Er stellt sogenannte Flash-Teams zusammen, also virtuelle Teams aus Spezialisten, die über die ganze Welt verteilt sind, aber gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten. Über internationale Freelancer-Plattformen wie Upwork findet und rekrutiert er die Digital-Köpfe innerhalb weniger Tage und verknüpft sie zu Teams, die dann für Unternehmen zeitlich befristete Projekte umsetzen. In den USA verfolgt das Unternehmen Catalant einen ähnlichen Ansatz, um die international heiß begehrten Spezialisten zu finden.

Noch sind Flash-Teams die Ausnahme, aber mit dem wachsenden Bedarf wächst auch die Bereitschaft in den Unternehmen, neue Wege zu gehen. Denn die nächste Welle der Digitalisierung beginnt gerade. Mit der Konjunkturabkühlung investieren Unternehmen im Moment verstärkt in Digitaltechnologie, die ihnen hilft, die Kosten zu senken. „In den kommenden Jahren wird die Prozessautomatisierung stark an Bedeutung gewinnen. Dafür werden Spezialisten für Robotic Process Automation in großer Zahl gebraucht“, erwartet Deglow. Das nächste große Loch auf dem Arbeitsamt ist damit schon beinahe programmiert.