„In der Künstlichen Intelligenz haben wir nur die Spitze des Eisbergs gesehen“
Künstliche Intelligenz gilt als die wichtigste Basistechnologie unserer Zeit, verbunden mit der Aussicht auf substanzielle Produktivitäts- und Wachstumseffekte quer durch alle Branchen. Deutschlands Industrie besitzt beste Voraussetzungen, ihre starke Stellung mit Hilfe Künstlicher Intelligenz nicht nur zu sichern, sondern sogar auszubauen – sucht aber noch nach dem richtigen Weg. Wie ein solcher Weg aussehen könnte, darüber haben (v.l.n.r. neben mir) Joachim Schreiner (Deutschland-Chef Salesforce), Markus Gabriel (Philosoph Universität Bonn), Stephanie Fischer (Mitgründerin Datanizing) und Hans Michael Strepp (Amtschef im Bay. Staatsministerium für Digitales) im Salesforce Basecamp in München diskutiert. Ich habe die Runde moderiert und fasse hier die wichtigsten Aussagen zusammen.
1. Der Künstlichen Intelligenz den Mythos und den Menschen die Angst nehmen
„Die Science-Fiction-Szenarien der Selbstzerstörung der Menschheit durch KI oder schlaue Roboter sind und bleiben Science-Fiction. Maschinen sind nicht intelligent. Es ist Aberglaube, eine kalifornische Techno-Religion oder Super-Marketing, aber es entspricht nicht den Tatsachen. Ich bin ganz optimistisch, dass die Roboter uns nicht übernehmen werden“, sagte Philosoph Markus Gabriel – und fordert: „Wir müssen erst einmal alle Mythen aus der KI herausnehmen und uns klarmachen, dass wir es mit einer sehr fortgeschrittenen Technik zu tun haben – mehr nicht.“
2. Fahrt aufnehmen, bevor es zu spät ist
„Wir haben in Deutschland den Zug in die Plattform-Ökonomie und in das Cloud-Computing verpasst. Aktuell ziehen wir keinen Mehrwert aus diesen Entwicklungen. Wir müssen schauen, dass uns das in der KI nicht noch einmal passiert. Das Fenster ist noch offen, aber wir müssen nun auf den Zug aufspringen. Wir verzichten auf massive Wettbewerbsvorteile, wenn wir den KI-Zug verpassen“, sagte Hans Michael Strepp. Zwar sind die Unternehmen offen für KI, aber Entscheidungen dauern zu lange. „Wir bauen unsere Produkte um Kundenbedürfnisse. Dafür muss man mit den Kunden sprechen. Man kommt zwar schnell ins Gespräch, aber dann dauert es sehr lange. Die Sales-Zyklen liegen oft bei ein bis zwei Jahren – das ist Wahnsinn“, sagte Stephanie Fischer, deren Unternehmen Datanizing große Textmassen analysiert und Muster darin erkennt.
Verloren ist aber noch nichts, denn die KI steht noch ganz am Anfang, meinte Joachim Schreiner: „In der KI haben wir erst die Spitze des Eisbergs gesehen. Vielleicht haben wir den einen oder anderen Anwendungsfall verpasst, aber es kommen noch so viele Einsatzmöglichkeiten, in denen niemand einen Vorsprung hat. Deutschland könnte aus dem Stand in vielen KI-Bereichen Weltmarktführer sein. Ich würde es heute allerdings nicht mehr mit einer Empfehlungsmaschine versuchen, die mir passende Schuhe zu meiner gerade gekauften Hose vorschlägt.“
3. Das Ende des Perfektionismus oder das wahre Potenzial der KI
In Umfragen zu den Einsatzgebieten der Künstlichen Intelligenz ergeben in Deutschland immer „höhere Effizienz“ an erster Stelle. Das Streben nach noch mehr Perfektion ist aber der falsche Weg. „Mehr Perfektionismus hilft uns nicht. Wir sind am Ende des Perfektionismus angelangt“, sagte Stephanie Fischer. Ihr Rat: Den talentierten Data-Scientists genügend Freiheiten geben, Dinge mal auszuprobieren, wirklich Neues in den Daten zu entdecken.
Das findet auch Joachim Schreiner: „Deutschland verspielt gerade Wettbewerbsvorteile. Denn die deutsche Industrie ist Weltmarktführer; jeder Hersteller hat in seinen Maschinen Sensoren eingebaut und wir besitzen die Daten. Eigentlich sehr gute Voraussetzungen. Der erste Gedanke, was wir damit machen, ist aber meist Automatisierung. Den eigentlich schon perfekten Prozess noch einmal drei Prozent besser machen. Das geht an den Möglichkeiten der KI vorbei. Die Amerikaner oder Chinesen wollen 30 oder 50 Prozent mehr Umsatz erzielen, komplett neue Geschäftsmodelle bauen. Unternehmen, die KI clever einsetzen, besetzen damit die Schnittstelle zum Kunden, bedienen den Wunsch der Kunden nach Bequemlichkeit. Der erste Ansatz der KI könnte in besseren Vorschlägen liegen, also dem Nutzer die „nächste, beste Aktion“ vorzuschlagen.
4. Der deutsche/europäische Weg: Ethische KI
Zwischen chinesischer Industriepolitik und amerikanischer Silicon-Valley-Manier gibt es einen europäischen Weg der ethischen KI, sagte Markus Gabriel: „Ethische KI ist ein Wettbewerbsvorteil für Deutschland. In der Ethik sind wir ohnehin Weltmarktführer; wir hatten mit Kant und Hegel die besten Player. Wir sollten durchaus selbstbewusst daran gehen: Der Europäische Weg ist nicht nur ein Mittelweg zwischen den KI-Supermächten, sondern es ist der beste Weg und die Grundlage für ein deutsches KI-Wirtschaftswunder.“ Am Beispiel des autonomen Fahrens zeigte Gabriel den Unterschied zwischen den Ansätzen: „In unserer Ethik-Tradition gibt es zum Beispiel kein Abwägen von Menschenleben gegeneinander, zum Beispiel bei unvermeidbaren Unfällen autonomer Fahrzeuge. Wir dürfen also keine Systeme bauen, die „autonom“ zum Tod von Menschen führen können.“ Mit der Konsequenz, dass es vollautonome Fahrzeuge in Innenstädten nach seiner Einschätzung nie geben wird. „Es darf kein vollautonomes Fahrzeug geben, sondern nur vollautonome Strecken, in denen keine Menschen zu Schaden kommen können. Autonomes Fahren in Städten ist eine grundsätzliche Fehlentwicklung und das wird nicht kommen. Autonomes Fahren in Städten ist mathematisch unmöglich, weil überall Menschen herumlaufen. Die Maschinen können nicht ethisch reagieren, weil sie kein Überlebensinteresse haben. Egal, wie gut unsere Technik wird, das bekommen wir nie hin. Es läuft immer mal ein Kind auf die Straße.“ Zusammen mit der Fraunhofer-Gesellschaft arbeitet Gabriel an einer KI-Zertifizierungsstelle, also einer Art „Ethik-TÜV für KI“.
5. Nicht nach den Sternen greifen, sondern mit KI einen schnellen Mehrwert liefern
Nach einer VDI-Umfrage zeigt sich aktuell eine starke Verschiebung der Einschätzung der Potenziale von KI-Anwendungen: Weg vom autonomen Fahren, Fliegen und der Robotik hin zu Verkehrsverflüssigung, Diagnostik, der Entlastung von Menschen bis hin zu einer Verbesserung der öffentlichen Verwaltung. Also Anwendungen, die erstens technisch schnell möglich, zweitens auf voraussichtlich hohe Akzeptanz treffen werden und gleichzeitig einen sehr hohen Nutzen versprechen. Das sehen auch die Panelisten in München ähnlich: „Wir sollten mit den KI-Anwendungen anpassen, die Menschen einen direkten Mehrwert bringen. Die Vorhersage von Verkehrsstaus wäre ein guter Punkt, weil alle davon genervt sind“, sagte Stephanie Fischer. Der erste Ansatz der KI könnte in besseren Vorschlägen liegen, also dem Nutzer die „nächste, beste Aktion“ vorzuschlagen, sagte Joachim Schreiner. Wenn die Menschen erleben, wie KI ihren Alltag erleichtert, wird auch die Akzeptanz steigen und die Angst verloren gehen.
6. Wie könnte/sollte eine gute KI-Politik aussehen?
Zum Beispiel die KI-Fachleute im Land halten. „Wir haben bei KI-Experten einen negativen Wanderungssaldo: Wir verlieren mehr KI-Experten ans Ausland. Da müssen wir ran. Nun können wir die Fachleute nicht festschnallen, sondern wir müssen ihnen Chancen bieten, zum Beispiel gute Forschungsbedingungen“, sagte Hans Michael Strepp, der auch betonte, dass Deutschland die „KI-Materialschlacht“, die sich Amerikaner und Chinesen liefern, nicht mitmachen könne. Allerdings müsse die Politik auch nicht immer auf die große europäische Lösung warten, sondern könne auch auf Landesebene viel tun.
Für Schreiner ist Bildung ein zentrales Politikthema: „KI muss in die Bildungssysteme integriert werden. Wenn ich sehe, was meine Kinder heute in der Schule lernen, dann unterscheidet sich das kaum von meiner Schulzeit. Digitalthemen müssen in den Unterricht“, forderte Schreiner.
Fotos: Fabian Vogl