Die Digitaltrends des Jahres 2023

Nicht alles, was uns in diesem Jahr in der digitalen Welt beschäftigen wird, ist komplett neu. Manches ist einfach nur reif und erntet die Früchte der Arbeit der vergangenen Jahre:
1. Digitale Nachhaltigkeit / Smart Energy
2. Generative AI & Creator Economy
3. As-a-Service-Modelle
4. Automatisierung
5. War for Talents
6. Retail Media
7. Chip-Produktion
8. Digitale Autos
9. Die Apple-Brille
10. Metaverse in Unternehmen

1. Digitale Nachhaltigkeit / Smart Energy

Gemeint ist damit nicht in erster Linie die Nachhaltigkeit der Informationstechnik (die ist auch wichtig), sondern primär der Einsatz digitaler Technologien für mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Empirische Studien zeigen: Die digitale Ausrichtung eines Unternehmens hat einen signifikanten und positiven Effekt auf die Umweltleistung – ein Effekt, der in technologisch turbulenten Geschäftsumgebungen noch ausgeprägter ist. Manager können somit gleichzeitig die Umweltleistung und die Wettbewerbsposition ihres Unternehmens verbessern, indem sie die digitale Transformation ihrer Organisation vorantreiben.

Geschätzt lässt sich etwa ein Drittel der CO2-Emissionen mit Hilfe digitaler Technologien vermeiden. Vor allem in der Industrie, in der Digital Twins, Simulationen, Automatisierung und Predictive Maintenance sowie der Übergang zu Service-Modellen den Energieverbrauch senken. Ebenfalls großes Potenzial schlummert in der Energiebranche, wo allerdings unsere mangelnde Digitalisierung dem ökologischen Fortschritt im Weg steht: Da Deutschland es (auch) nicht geschafft hat, flächendeckend Smart Meter in den Haushalten zum Einsatz zu bringen, fehlt nun eine wesentliche Infrastruktur für intelligente Smart Grids. Immerhin: Das Bundeswirtschaftsministerium arbeitet nun daran, diese Lücke schneller zu schließen. So schwierig kann das nicht sein: In vielen Ländern in Europa ist der Smart-Meter-Rollout längst abgeschlossen.

2. Generative AI & Creator Economy

ChatGPT hat erstmals einem breiten Publikum gezeigt, was „Generative AI“ ist: Mit Methoden der Künstlichen Intelligenz lassen sich neue Inhalte auf Basis bestehender Inhalte produzieren. Das können Texte ebenso wie Bilder, Videos, Musik bis hin zu Software sein. So wie chatGPT Antworten auf Fragen liefert, Kundenanfragen automatisiert beantwortet und ganze E-Books schreibt, kreieren DALL-E 2 oder Stable Diffusion neue Bilder. Auf eine ähnliche Weise produzieren Anbieter wie Synthesys, Pictory und Meta AI neue Videos im Computer, während Amper Music oder MuseNet sich auf Musik spezialisiert haben. Noch einen Schritt weiter geht die automatisierte Produktion von Software, zum Beispiel für Websites oder 3D-Modelle.

ChatGPT hat die Büchse der Pandora geöffnet. Nun ist Phantasie gefragt, die Technik sinnstiftend einzusetzen, zum Beispiel im Zusammenspiel mit Automatisierungstools wie Zapier. Werbetexte, Antworten auf Kundenanfragen, E-Mails, Tweets – chatGPT schreibt alles und wird mit der neuen Version (GPT4) in diesem Jahr noch besser. Eine Qualifikation ist dabei besonders gefragt: „Prompts“ zu schreiben, also die möglichst präzisen „Arbeitsanweisungen“ an die Software, die entscheidend sind für die Qualität der Antworten. Ziemlich sicher wird diese KI der Creator Economy in die Hände spielen, die sich wahrscheinlich zuerst auf die Technik stürzen wird.

Der Durchbruch von chatGPT wird die Investitionen in dieses Feld nochmals ankurbeln. 2023 wird Generative AI endgültig im Mainstream ankommen. Offenbar will Microsoft, der Hauptinvestor hinter Open AI, chatGPT in seine Suchmaschine einbinden. Das könnte neues Leben in den zementierten Suchmaschinenmarkt bringen.

3. As-a-Service-Modelle

Digitale Geschäftsmodelle sind der Dauerbrenner unter den Digitaltrends, denn Fortschritte sind ebenso wichtig wie schwierig. Zwar halten fast alle Unternehmenslenker digitale Geschäftsmodelle für notwendig, um neue Erlösströme zu erzielen, in neue Märkte einzusteigen und sich gegen digitale Konkurrenz zu wappnen, aber Fortschritte gab es 2022 so gut wie keine, zeigt der IW-Digitalisierungsindex. Im Gegenteil: In wirtschaftlich schwierigen Zeiten lässt die Experimentierfreude der deutschen CEOs rapide nach, was sich zum Beispiel in der Autoindustrie gut beobachten lässt.

Im Zentrum steht aktuell die Umwandlung von Produkt- in Servicemodelle, die in fast allen Branchen Fahrt aufgenommen hat. Servicemodelle haben mehrere Vorteile: Sie schaffen eine tiefe weil stetige Beziehung zum Kunden, senken die Markteintrittsbarriere, weil der Preis über den Produktlebenszyklus verteilt wird (CapEx –> OpEx) , verteilen das Risiko sinnvoller und ermöglichen permanente Produktverbesserungen. Natürlich bleiben andere Geschäftsmodelle wie Plattformen oder datengetriebene Modelle relevant, doch sie sind meist komplizierter und brauchen länger.

4. Automatisierung

„Uns gehen die Ausreden aus, wenn es um den Wechsel zu fortschrittlichen transformativen Technologien geht. Lösungen wie künstliche Intelligenz sind jetzt verfügbar. Unternehmen müssen keine hohen Investitionen mehr tätigen, um in der heutigen digitalen Wirtschaft die Nase vorn zu haben. Es ist nur eine Frage des Willens, der Bildung und der Vermittlung der neuen Horizonte, die diese Technologien für Unternehmen eröffnen. Automatisierung ist der Schlüssel, denn es gibt einfach nicht genug Mitarbeiter, um ein Unternehmen in den 2020er Jahren wettbewerbsfähig zu halten. Ohne autonome Abläufe wird es unmöglich, allein mit menschlichem Einsatz mit der Digitalisierung Schritt zu halten“, sagt Dell-Technologiechef John Roese. Tatsächlich rollt die Automatisierungswelle bereits – allerdings vor allem in China, wo das unerschöpfliche Reservoir an billigen Arbeitskräften langsam aber sicher ausgeschöpft ist. Entsprechend investieren die Unternehmen dort strategisch in Automatisierung – und das schon seit zehn Jahren, vor allem für den Bau elektrischer Autos. Die amerikanischen Unternehmen automatisieren ebenfalls in Rekordgeschwindigkeit, aber in Europa ist das Tempo eher gemächlich. Aber auch hierzulande werden der Arbeitskräftemangel und der Wunsch nach mehr Resilienz die Automatisierung vorantreiben. Daran führt kein Weg vorbei.

5. War for Talents

Sicher kein neues Phänomen, aber eines, das jedes Jahr an Bedeutung gewinnt und in direktem Zusammenhang mit der Automatisierung steht. Zwar geht die Zahl der Stellenausschreibungen wegen der schwachen Konjunktur aktuell wieder etwas zurück, doch das Strukturproblem des Fachkräftemangels wird immer größer. Interessanterweise agieren die Unternehmen selbst in dieser Phase prozyklisch und sparen aktuell an der Weiterbildung, obwohl die Lücke auf eine Rekordniveau gestiegen ist.

Zu den Top-Qualifikationen, die dringend gebraucht werden, gehören:

  • Data Scientists / Data Engineers
  • Cloud Computing
  • Künstliche Intelligenz / Machine Learning
  • Automatisierung / Robotic Process Automation
  • DevOps
  • Chip-Design
  • Augmented Reality / Virtual Reality
  • Cybersecurity

6. Retail Media

Das Werbeduopol aus Google und Facebook/Meta ist disrupted. Der Grund dafür heißt vor allem Retail Media. Denn die Platzierung von Werbung in Shops wächst schneller als jede andere Werbeform. Rund 40 Mrd. Dollar Umsatz hat allein Amazon damit im vergangenen Jahr erzielt – und die Zuwächse bleiben hoch. Denn die Handelsbranche hat erst 2022 so richtig mit der Werbung losgelegt. Kaum ein Online-Händler lässt sich dieses hochmargige Zusatzgeschäft entgehen: Ob Walmart, Kroger und Instacart in den USA oder Otto, Zalando, MediaMarkt und Lidl in Deutschland – nirgendwo ist Werbung näher beim Kaufinteressenten platziert als in den Shops. Neue Retail-Media-Networks sorgen heute für eine professionelle Ausspielung der Werbung über die eigenen Shops hinaus. Zudem verfügen die Händler meist über bessere First-Party-Daten und werden diesen Vorteil in der Post-Cookie-Ära immer besser ausspielen können.

7. Chip-Produktion

Zu den vielen Digitaltrends, die Europa in den vergangenen zehn Jahren verschlafen hat, gehört auch die Chip-Produktion. Wenig tröstlich: Europa ist in guter Gesellschaft, denn auch die USA haben sich weitgehend auf asiatische Produzenten verlassen, vor allem Taiwan Semiconductor (als weltgrößter Auftragsfertiger), Samsung und SK Hynix aus Südkorea.

Die Lieferprobleme während der Pandemie haben die Abhängigkeit sichtbar gemacht und zuerst die EU und dann die Amerikaner zu milliardenschweren Investitionsprogrammen animiert. Die Amerikaner sind wild entschlossen, dieses Milliarden-Spiel aus geopolitischen Gründen zu gewinnen. Die geplanten Investitionen sind auf Rekordniveau hochgeschossen: Allein Taiwan Semiconductors investiert 40 Mrd. Dollar in Arizona, um das Silicon Valley direkt zu beliefern. Auch Samsung, Intel, Texas Instruments, SK Hynix und Micron stecken in den kommenden Jahren zweistellige Milliardenbeträge in US-Fabriken, um am die reichhaltigen Fördertöpfe zu gelangen. Mehr als 100 Mrd. Dollar betragen die geplanten Investitionen, um die Herzstücke der Smartphones, autonomen Autos und sonstigen Gadgets künftig in Amerika zu produzieren. Europa kann in diesem Wettbieten aktuell nicht mithalten und muss dringend nachbessern. Auch in der Bildung: Chipdesign gehört zu den digitalen Qualifikationen, die in Zukunft massiv fehlen werden.

8. Digitale Autos

Während die meisten deutsche Hersteller die Budgets kürzen und den Abgesang auf das autonome Auto anstimmen, investieren Amerikaner und Chinesen munter weiter. Die GM-Tochter Cruise, die Google-Gesellschaft Waymo oder Tesla sowie Baidu, AutoX und PonyAI in China bringen die autonomen Autos auf die Straßen. Meist als Robotaxis, deren Pannen medial genüsslich ausgeschlachtet werden, um die Skeptiker zu bedienen, aber zur Entwicklung einer der komplexesten Technologien unserer Zeit einfach dazugehören.  Immerhin: Der Zulieferer ZF plant gemeinsam mit dem amerikanischen Mobilitätsanbieter Beep die Produktion von Level-4-Shuttles, die auf amerikanischen Straßen fahren sollen.

Eine Stufe darunter mischen auch die deutschen Hersteller wieder mit. Dee, dessen Frontscheibe zum Riesendisplay wird, nennt BMW sein Auto der Zukunft. ID 7 heißt der elektrische Passat bei Volkswagen, der ein Augmented-Reality-Head-up-Display und ein 15-Zoll-Touchscreen als Serienausstattung mitbringt.

Die deutschen Premium-Hersteller müssen im Digitalen nachbessern, da gerade die wichtigen chinesischen Kunden immer häufiger zu weiter digitalisierten Alternativen wie den Nio 7, den Li L9, den Avatr 11, den FAW Hongqi H6 und den HiPhi-Modellen (Foto) greifen.

9. Die Apple-Brille

Das spannendste Produkt des Jahres 2023 wird wahrscheinlich die neue Mixed-Reality-Brille von Apple. Wie immer gilt: Alle kursierenden Informationen sind nur Gerüchte, aber die Quellen sind verlässlich und daher dürfen wir uns (wahrscheinlich) auf folgende Features freuen:

  • Als erste Variante eine VR/AR-Brille für professionelle Nutzer zum Preis von rund 3000 Dollar. VR/AR bedeutet: Mit Hilfe eines kleinen Rades (ähnlich wie „Digital Crown“) kann zwischen der erweiterten Realität (AR), für die Informationen über das Sichtfeld des Nutzers gelegt werden, und der virtuellen Realität (VR) hin- und her getauscht werden.
  • Die beiden internen OLED-Displays in der Brille sollen jeweils mit 4K auflösen. Spezielle Linsen, die per Magnet befestigt werden, sollen für die nötige Korrektur der Sehstärke bei Brillenträgern sorgen.
  • Der Akku soll am Gürtel getragen werden, um die Brille nicht zu schwer zu machen, und etwa zwei Stunden durchhalten.
  • Kameras in der Brille beobachten die Augen des Trägers, um das angezeigte Bild besser zu rendern.

Hauptanwendungsfall sind nicht Spiele, sondern Videokonferenzen und Bildung. iOS-Programme sollen sich direkt auf der Brille ausführen lassen. Da Apples Brille wohl keine Controller wie die Konkurrenzprodukte von Meta und Sony an Bord haben wird, könnte die Sprachsteuerung in den Vordergrund rücken. Siri könnte doch noch nützlich werden.

Apple hat sich mit der Brille viel Zeit gelassen. Aber die geleakten Features klingen spannend und könnten die Technologie aus der Nerd-Ecke in den Massenmarkt heben – zumindest wenn die günstigere Consumer-Brille auf den Markt kommt.

Einen neuen Apple Pencil könnte es auch geben – darauf deuten neue Patente hin. Das Patent bezieht sich auf Bildsensoren, die Farben auf realen Oberflächen sowie deren physische Beschaffenheit erkennen können. Wenn diese Funktion implementiert wird, könnten die neuen Apple Pencils Künstlern und Designern helfen, Farbmuster zu finden und abzugleichen, ohne sie digital suchen zu müssen.

10. Metaverse in Unternehmen

Auf den Mega-Hype folgte im vergangenen Jahr der Mega-Absturz und die Frage, was nach der Goldgräberstimmung als echter Wert übrigbleibt. Naheliegend: Das Metaverse am Arbeitsplatz, sei es für digitale Zwillinge, virtuelle Konferenzen, Bildung oder im Marketing. Die Entwicklung hängt aber an der richtigen Hardware – siehe Apple Brille – und wird sich nicht über Nacht zeigen.

Dagegen müssen die Web3-Protagonisten ihren Traum vom dezentralen Internet mit NFTs und Kryptowährungen noch einmal neu träumen und sinnstiftende, praktikable sowie weniger anfällige Strukturen bauen. Im vergangenen Jahr wurde viel Vertrauen zerstört – und der Neuaufbau wird lange dauern.

 

Und was sonst noch wichtig wird in diesem Jahr:

  • First-Party-Daten, da sich alle Unternehmen in der Branche – nun aber wirklich – auf die Zeit nach dem Cookie vorbereiten müssen.
  • EU-Tech-Regulierung: Die Chinesen sind fertig mit der Regulierung, die Amerikaner warten weiter ab, aber die EU-Regulierung – DMA, DSA, AI Act – wird jetzt scharfgeschaltet.
  • Super-Apps: Die All-In-One-Apps, die in Asien schon lange führend sind, könnten 2023 auch im Westen durchstarten. PayPal, Twitter, Klarna oder Uber versuchen ihr Glück. Kann aber auch scheitern.