Der Flaschenhals der digitalen Transformation sind die Fachkräfte
Viele Digitalisierungsprojekte scheitern oder werden gar nicht erst angeschoben, weil die nötigen Fachkräfte fehlen. Die Zahl der ausgeschriebenen Digitaljobs steigt innerhalb eines Jahres um 32 Prozent.
Die digitale Transformation beschleunigt sich – auch auf dem Arbeitsmarkt. Zwar entfällt der Großteil der ausgeschriebenen Digital-Jobs in Deutschland noch auf die klassischen Disziplinen Online-Marketing, Online-Handel und Social Media, doch das Wachstum findet inzwischen an anderen Stellen statt: Experten für Künstliche Intelligenz, 3D-Druck, E-Health oder Robotics wurden im ersten Quartal 2018 etwa doppelt so häufig per Stellenausschreibung gesucht wie im Jahr zuvor. Insgesamt nahm die Zahl der Jobanzeigen für Digitalspezialisten in diesem Zeitraum um 32 Prozent zu, zeigt der Digitale Job-Monitor des Handelsblatts, für den im Zusammenarbeit mit der Berliner Index-Gruppe alle ausgeschriebenen Stellen in Deutschland analysiert werden.
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Den größten Zuwachs, wenn auch auf niedrigem Niveau, weisen die offenen Stellen für digitale Projektmanager auf. Die oft beinahe verzweifelte Suche nach Managern für den digitalen Wandel hat ihre Ursache in Deutschlands Nachholbedarf in der digitalen Transformation: Viele Digitaltechnologien wie Cloud Computing oder aktuell die Künstliche Intelligenz werden erst mit einiger zeitlicher Verzögerung im Vergleich zu den USA oder China eingeführt. Und selbst dann bringt der Einsatz der Digitaltechnologie oft wenig, so lange es keinen begleitenden Wandel in Richtung neuer Geschäftsmodelle, besserer Erfüllung der Kundenbedürfnisse oder agiler Entwicklungsprozesse gibt – wofür ebenfalls Fachkräfte dringend gesucht werden.
Digitale Vordenker gesucht
Besonders deutlich ist dieses Missverhältnis beim deutschen Vorzeigeprojekt Industrie 4.0 zu sehen: Nach einer aktuellen Studie des Softwareanbieters Oracle investieren zwar 77 Prozent der befragten deutschen Fertigungsunternehmen in Industrie-4.0-Technologien. Aber viele Unternehmen sehen bisher keine oder nur geringe positive Auswirkungen auf ihre Geschäftsentwicklung. Nach Ansicht von Oracle-Manager Tobias Staehle hat die deutsche Industrie die digitale Transformation falsch angepackt: „Es ist noch ein langer Weg, bis Fertigungsunternehmen wirkliche Fortschritte durch Industrie 4.0 erzielen“. Investitionen in moderne Technologien hätten zwar zu höherer Effizienz und sinkenden Kosten geführt. Doch die meist nur inkrementellen Verbesserungen und das gleichzeitige Festhalten an den klassischen linearen Geschäftsmodellen genügen in der digitalen Welt nicht mehr, in der die Konkurrenten mit Plattform-Modellen auf exponentiellen Wachstumskurven unterwegs sind. „Eine echte Weiterentwicklung der Geschäftsprozesse und -modelle erfordert Denken in größeren Dimensionen“, sagt Staehle.
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Diese digitalen Denker sind leider zu selten zu finden. Mittelständler Martin Viessmann hatte Glück: Der digitale Kopf kam aus der Gründerfamilie. Sein Sohn Max Viessmann (29) treibt jetzt die digitale Transformation des Heizungsbauers voran und hat mehr im Kopf als effizientere Prozesse. Ein Beispiel: Gemeinsam mit Bringmeister, dem Online-Supermarkt von EDEKA, und dem Reinigungsdienst BookATiger baut Viessmann eine Plattform auf, die Kunden die Lebensmittel direkt nach Hause liefert, ohne dass sie anwesend sein müssen. Viessmann bringt dafür neuartige Hausservices in die Kooperation ein, die Dienstleistern einen begrenzten Zugang in die Wohnung ermöglichen. Eine clevere Idee, um den Amazon-Diensten Key und Fresh zuvorzukommen.
Den Transformator in der eigenen Familie
Den digitalen Transformator aus einer eigenen Familie gibt es auch beim Personaldienstleister Kienbaum, wo Fabian Kienbaum heute das Digitale verantwortet. Viele Mittelständler haben dieses Glück aber nicht. Ihnen fehlen die passenden digitalen Führungspersönlichkeiten, die immer nötig sind, um die Digitalisierung voranzubringen. Drei Viertel der von Oracle befragten deutschen Herstellern beklagen den Fachkräftemangel als größte Barriere für das Erschließen der Potenziale von Industrie 4.0.
Mindestens genauso schwierig wie das Rekrutieren neuer Mitarbeiter ist die fehlende Begeisterung in der vorhandenen Belegschaft: 59 Prozent der Unternehmen stimmten der Aussage zu, dass ihre Mitarbeiter Industrie-4.0-Technologien nur zögerlich nutzen. In einer Allensbach-Umfrage gaben gar nur 19 Prozent der Befragten an, den Begriff Industrie 4.0 sympathisch zu finden, weil sie um ihre Jobs fürchten. Ohne richtig ausgebildete und gleichzeitig motivierte Besetzung, die übrigens immer an der Unternehmensspitze beginnen sollte, wird der digitale Wandel aber nicht gelingen. Deutschlands Rückstand ist in einigen Feldern wie der Plattform-Ökonomie ohnehin schon bedrohlich groß geworden. Selbst eigentlich intelligente Modelle wie Trivago oder HRS haben in der Online-Reisebranche gegen die US-Konkurrenten wie Booking.com oder Airbnb einen schweren Stand.
250000 Euro für KI-Spezialisten – im Durchschnitt
Das gilt auch für eines der wichtigsten Themen der digitalen Transformation, der Künstlichen Intelligenz. Sie ist in der Rangliste der IT-Prioritäten der deutschen Unternehmen gerade an die vierte Stelle vorgerückt. In einer Studie von IDG-Research gaben aber nur 24 Prozent aller Unternehmen an, die entsprechenden Fachleute dafür schon an Bord zu haben. Unter den kleineren Firmen betrug die Quote nur 18 Prozent. Die Chance, diese fehlenden Fachleute zu bezahlbaren Gehältern am Markt zu finden, ist im Moment praktisch gleich null. Denn die Durchschnittseinkommen der KI-Experten in den großen Digitalunternehmen wie Google oder Facebook liegen inzwischen bei rund 250000 Dollar im Jahr. Tendenz: schnell steigend. Die großen Unternehmen locken aber nicht nur mit hohen Gehältern und tollen Arbeitsumgebungen. Sie bauen auch große KI-Labore in Deutschland auf, um den Wechsel so einfach wie möglich zu machen. Nur wenige deutsche Unternehmen können in dieser Liga noch mithalten.
Aussicht auf eine Besserung der Situation ist kurzfristig nicht zu erwarten. Die halbjährlich wiederholte Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) hat gerade den höchsten Wert für die Kluft am IT-Arbeitsmarkt seit Beginn der Untersuchung im Jahr 2011 erreicht. „Vor allem IT-Fachkräfte für die Gestaltung des digitalen Wandels werden in den Unternehmen händeringend gesucht“, sagt auch IW-Projektleiter Axel Plünneke.
Über fehlende Digitalspezialisten klagen auch die Startups, die im Durchschnitt 5 offene Stellen nicht besetzen können, wie eine aktuelle Umfrage des Hightech-Verbandes Bitkom zeigt. „Wer offene Stellen für Informatiker oder Ingenieure hat, konkurriert mit vielen Unternehmen um dieselben Kandidaten – und Startups können in aller Regel nicht jene Gehälter zahlen, die etablierte Unternehmen anbieten“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. Startups bemühen sich daher immer stärker international um geeignete Mitarbeiter – was aber nur in Großstädten wie Berlin oder München gut funktioniert. Auch wenn die Universitäten viele neue Lehrangebote für Digitales entwickeln, wird der digitale Arbeitsmarkt auch kurz- und mittelfristig leergefegt bleiben. Den Unternehmen bleibt nichts anderes übrig, als ihre eigenen Mitarbeiter weiterzubilden. Dann können auch aus Deutschland begeisternde KI-Innovationen kommen.